Prof. Dr. Christina Hölzel reflektierte heute Morgen in einem Tweet ihre eigenen Bildungsprivilegien öffentlich – etwas, das meiner Erfahrung nach sehr bzw. viel zu selten geschieht.
Unter diesem Tweet fanden sich viele zustimmende Kommentare, die wiederholen, was eigentlich längst in aller Munde – und wohl auch in den Köpfen – angekommen ist: Man müsse Chancen bereiten, Hürden verringern, Hände reichen.
Doch reicht das? Ich denke nicht. Dabei geht es nicht darum, solche Äußerungen als Phrasen oder Plattitüden zu diffamieren. Im Gegenteil, sie sind richtig und wichtig und es ist gut, dass dieses Bewusstsein so breit angekommen ist; aber sie spiegeln für mein Empfinden genau das, was der Tweet ursächlich aufzeigen wollte: Wer sich erfolgreich in Academia bewegt, gehört nur selten zu den Bildungsaufsteiger:innen und blickt damit aus einer privilegierten Stellung auf ein Problem, das er/sie nicht kennt.
Der Hochschul-Bildungs-Report zeigt aktuelle Zahlen, die quantifizieren, wie viel noch zu tun ist, um tatsächlich Chancengleichheit zu schaffen. Demzufolge erreichen 21% aller Kinder aus nichtakademischen Haushalten die Hochschulreife. Von diesem Fünftel absolvieren nur 70%, also 15% insgesamt, den Bachelor. Und auch danach machen nur noch 56% einen Masterabschluss (insg. 8%) und nur 15% der Masterabsolventen promovieren – das ist gerade mal 1% aller Nichtakademiker:innenkinder. Zu denen gehöre ich inzwischen auch.
Es geht mir hier aber nicht darum, Zahlen und Statistiken auszuwerten, die mal mehr, mal weniger nach Gründen und Ursachen suchen. Ich will auch keine umfassende Analyse des bildungspolitischen Versagens anbringen – da gibt es zweifelsohne kompetentere Menschen als mich, das zu tun. Es gibt viele Ansätze, die dieses Missverhältnis bekämpfen wollen. Es ist eine Bereicherung, dass verschiedene Stiftungen, wie Arbeiterkind.de, die START-Stiftung oder Chancenwerk e.V., sich für verbesserte Bildungschancen einsetzen, fördern und aufklären und versuchen, Hürden zu verringern. Dass das nicht reicht, ist wohl eine Binsenweisheit.
Als ich diese Zahlen des Hochschul-Bildungs-Reports das erste Mal gesehen habe, wurde mir klar: Ich habe den Sprung geschafft. Den Sprung, von dem ich geträumt habe, als ich noch gar nicht wusste, was es bedeutete, auf die Frage von Erwachsenen, was ich mal machen möchte, schon in der ersten Klasse zu antworten: »Ich will studieren.« Und nun gehöre zu dem einen Prozent der privilegierten Unprivilegierten, die es zum Doktor geschafft haben. Mein Weg dahin war ein überraschend gradliniger und doch habe ich einige Felsbrocken umschiffen müssen. Warum gerade ich das geschafft habe, verstehe ich dabei bis heute nicht im Detail. Klar war nur: Es lag niemals an mangelndem Ehrgeiz oder an intellektuellen Defiziten. Im Gegenteil, wie ich heute weiß.
Die Frage ist für mich schon lange nicht mehr, inwiefern der sozioökonomische Status der Eltern und die Herkunft die eigenen Bildungs- und Berufsaussichten beeinflussen und was dagegen zu tun sei – die Faktoren sind derart komplex, dass sie in einem Blog ohnehin nicht hinreichend beleuchtet werden können. Vielmehr möchte ich mich auf einen Aspekt konzentrieren, den ich in all den Jahren, in denen ich mich mit Bildungsfragen auseinandersetze, nie gesehen habe:
Die Tatsache, dass viele Kinder aus nichtakademischen Haushalten nur selten eine akademische Laufbahn einschlagen, liegt – zumindest entspricht das meiner Erfahrung – nicht daran, dass niemand die Hand reichen würde, sondern dass der Graben, der mit dieser Handreichung überbrückt werden muss, so breit und tief ist, dass die Kinder auf der anderen Seite die Hand maximal in der Ferne erahnen können. Die Hand erreicht diejenigen, die den Graben an sich bereits überbrückt haben und nun Schwierigkeiten bei der letzten Etappe haben.
Es beginnt schon damit, dass Kinder ihre eigene Kompetenz und Selbstwirksamkeit nicht erfahren und gar nicht wissen, dass sie eventuell das Potenzial haben, ein Studium zu absolvieren. Schulmüdigkeit, sogar Schulangst greifen schon früh um sich und ersticken jegliche akademische Ambition im Keim. In meiner pädagogischen Laufbahn habe ich in jeder Station – vom Ehrenamt für Kindergartenkinder, über die Betreuung von Grundschulkindern, meine Tätigkeit als Lehrerin an einem Berufskolleg oder auch als Lehrbeauftragte an der Universität – immer wieder beobachten können, dass der Grund dafür weder im Intellekt der Kinder/Jugendlichen begründet liegt noch in einem Mangel an Hilfsangeboten und Beratungsstellen:
In den meisten Fällen, die ich selbst oder als Außenstehende miterlebt habe, war es die schiere Unkenntnis über diese Möglichkeiten und die fehlende Erfahrung der eigenen Kompetenz. Erst im zweiten Schritt stellen sich sozioökonomische und soziokulturelle Faktoren als zusätzlich zu überspringende Hürden heraus – sei es die Frage der Finanzierbarkeit, der Verpflichtung, die eigene Familie zu unterstützen, die eigene Unsicherheit und Angst vor Neuem oder die Exklusion derjenigen, die die habituellen akademischen Spielregeln nicht beherrschen. Das ist mit Blick auf die Zahlen des Hochschul-Bildungs-Reports auch kaum verwunderlich, denn an den Hochschulen bewegen sich immer noch zum Großteil im akademischen Umfeld sozialisierte Akademiker:innenkinder.
Das einfach damit zu begründen, dass nun mal Akademiker:innenfamilien den Stellenwert der Bildung einerseits viel besser verstünden und andererseits die nötige Hilfestellung (selbst oder durch finanziellen Aufwand) leisten könnten, verkennt meiner Erfahrung nach die Realität der Familien aus ›bildungsfernen Milieus‹. Gerade dort, wo Mangel, Not und Existenzsorgen den Alltag beherrschen, ist das Bewusstsein über die Aufstiegschancen, die Bildung (eigentlich) bietet, groß. Doch viele dieser Familien wissen oftmals nicht um die Breite der Angebote und Möglichkeiten – und zwar nicht, weil diesen Eltern die Bildungskarriere ihrer Kinder egal wäre, sie in ihrer Not keine Zeit haben oder sich nicht für die eigenen Nachkommen einsetzen, sondern schlichtweg, weil Hilfsangebote oftmals so konzipiert sind, dass sie primär diejenigen erreichen, die ohnehin schon die Option des Abiturs und Studiums für sich in Erwägung ziehen. Diese Kinder und Jugendlichen haben ihre Selbstwirksamkeit und Kompetenz bereits erlebt, haben vielleicht Lehrer:innen gehabt, die sie ermutigt und beraten haben, und wissen um die vielfältigen Möglichkeiten, die ihnen nach dem Abitur offenstehen.
Aber was ist mit denen, die selbst diese erste Hürde noch nicht gemeistert haben? Talentscouts in die Schulen zu bringen, ist dabei einer der vielversprechendsten Ansätze, diesen Missstand zu beseitigen, die mir aktuell bekannt sind. Doch auch hier stehen überwiegend Abiturient:innen im Fokus und es kann nur punktuelle Hilfe geleistet werden. Was es bräuchte, wären druckfreie (Leistungs-?)Strukturen, in denen Kinder ihre Kompetenz erleben; und sei es nur flächendeckend durch Mentor:innen und/oder Schulpsycholog:innen, Sozialarbeiter:innen usw., die Schüler:innen über ihre Chancen aufklären, die eigenen Ziele eruieren, individuell beraten und Lösungswege aufzeigen – und an dieser Stelle sei einfach mal erwähnt: Nicht jeder, der den Intellekt und die Ausdauer mitbringt, die ein Studium abverlangen, möchte das auch – es gibt keinen Grund, diese Menschen als ›Gescheiterte‹ zu stigmatisieren.
Ich möchte das allerdings lieber an anderer Stelle weiter vertiefen und hier auf den Aspekt zurückkommen, der in der Debatte um Bildungschancen zu kurz kommt und der mich persönlich betroffen hat. Meine ›eigentlichen‹ – und damit meine ich die wirklich herausfordernden – Kämpfe waren andere als die in den Medien diskutierten oder die latent in diesen Debatten mitschwingenden Annahmen derer, die bereits aus einer privilegierten Stellung heraus auf die Lage blicken.
Natürlich war auch bei mir mit knapp 20 die Frage, wie ich mir damals als noch Halbwaise ohne Kontakt zur väterlichen Familienseite eigentlich ein Studium und anschließend die Promotion leisten könne und auch der Höchstsatz Bafög (damals ca. 570€), der mir glücklicherweise zustand, hat mich nicht vor Existenznöten bewahrt – doch es ging. Der Schritt an die Uni war getan. Die Hürde war gemeistert (wenn auch in meinem Fall abseits des Bafögs ohne direkte Handreichung von außen); und zwar auch deshalb, weil ich einerseits schon in der Grundschule den Wunsch hatte zu studieren und andererseits eine Mutter hatte, deren Bildungsambitionen durch familiäre Umstände regelrecht nonexistent waren, und die sich aufgrund ihrer eigenen unerfüllten Bildungswünsche deshalb dafür eingesetzt hat, dass ich der völligen Unterforderung auf der Hauptschule durch den Wechsel in die sechste Klasse des Gymnasiums entfliehen konnte.
Die eigentlichen Probleme waren erstens schwierige persönliche Umstände, die wenig Unterstützung bereithielten; unter anderem, weil ich die erste in meiner Familie bin, die Abitur gemacht hat und mich niemand beraten konnte. Zweitens wusste ich gar nicht, was es überhaupt für Beratungsangebote gibt, welche ich wahrnehmen kann und welche wirklich Aussicht auf Erfolg versprachen. Drittens war die größte Herausforderung allerdings die Uni selbst – und zwar nicht aufgrund der vermittelten Inhalte. Im Gegenteil, diese eröffneten mir kleinem ›Ghettokind‹, wie ich mich gelegentlich noch selbstironisch bezeichne, mit Hang zum Grübeln eher eine Möglichkeit, meinen losen Gedanken Struktur, Form und Farbe zu verleihen. Viel schwieriger waren die eigenen Unsicherheiten, das antrainierte Impostor-Syndrome. Antrainiert deshalb, weil ich streng genommen noch nie einen Grund hatte, an meiner eigenen Kompetenz zu zweifeln. Ich habe sie früh erfahren und bis zum letzten Schritt meiner aktuellen Bildungsbiographie immer wieder bestätigt bekommen.
Das eigentliche Problem war das Gefühl, nicht zu den anderen zu gehören und keine Chance zu haben, akzeptiert und wie der Wolf im Schafspelz jeden Moment enttarnt zu werden. Das Impostor-Syndrome, das mir bis heute einflüstert, dass ich zwangsläufig Bildungsdefizite aufweise, die andere nicht haben, die ich nie im Leben ausgleichen könne und deshalb auch nicht als Literaturwissenschaftlerin ernstgenommen werden würde. Das hat und hatte meiner Meinung nach habituelle Gründe. Die Kommiliton:innen, mit denen ich in den Seminaren saß, wussten alle mehr als ich – auch die, die eigentlich gerade mit mir angefangen hatten. Sie wussten Bescheid über universitäre Strukturen, über die Möglichkeit, im Master den Bildungsgang zu wechseln, kannten teilweise geisteswissenschaftliche Theorien und haben mit Wörtern und Begriffen um sich geschmissen, die ich regelmäßig heimlich bei duden.de nachgeschlagen habe. Ich wollte mich auch habituell gar nicht anpassen; schon weil ich glaubte, es würde nichts nutzen. Ich wusste, würde ich mir Verhalten antrainieren, das mir und meiner inneren Haltung nicht entspricht, würde ich unauthentisch werden und dann spätestens deshalb nicht dazu gehören. Diese Mentalität beobachte ich immer wieder auch bei anderen.
Mir geht es hier nicht um Habitus-Shaming. Ich habe immer bewundert, wie rational und abgeklärt viele von ihnen mit klaren Zielen und Plänen vor Augen studiert haben. Mein Ziel war eigentlich nur, diesen Graben zwischen ›Getto‹ und Uni erst mal zu überspringen. Meine Geschichte ist auch nicht zwangsläufig repräsentativ, weil ich mich im Bildungssystem mit seinem einhergehenden Leistungsdruck trotzdem problemlos wie ein Fisch im Wasser zurechtfinde, ja sogar die Gelegenheit bekam, Leher:innen aus meiner Vergangenheit Lügen zu strafen, indem ich mein intellektuelles Potenzial unter Beweis gestellt habe. Aber meine Geschichte verweist auf ein grundlegendes Problem, das sich in den Zahlen des Hochschul-Bildungs-Reports wiederfindet und das ich immer wieder in meiner pädagogischen Arbeit (u.a. der Stipendienberatung meiner Schüler:innen) erlebe:
Diejenigen, die erreicht werden sollen, sind in unerreichbarer Ferne für diejenigen, die nach ihnen suchen, weil die Lebensrealitäten völlig verschieden sind. Eine Annäherung wird durch habituelle Gräben nur weiter erschwert, denn diejenigen, die Bildung fördern, sind oftmals die, die bereits im System reüssieren – die Hemmschwelle, diese Hand, die gereicht wird, auch tatsächlich zu ergreifen, ist mangels Identifikationspotenzialen sicher größer, als einem bewusst sein kann. Den Talentscouts, Stiftungsmitarbeiter:innen, Ehrenamtlichen liegt Bildungsgerechtigkeit am Herzen und eine Vielzahl unter ihnen hat sicherlich auch eine Aufstiegsbiographie. Aber noch einmal der Blick auf die Zahlen: Gerade einmal ein Fünftel des Klientels, das mit solchen Förderangeboten erreicht werden soll, schafft es überhaupt zum Abitur – und genau hier setzen dann die Angebote auch erst an. Sommer-Akademien, Schüler:innen/Studien-Stipendien, Bafög, Mentoringprogramme: All diese Förderungsmöglichkeiten helfen vielmehr dabei, die Hürden dort, wo sie sie einreißen, gleich wieder aufzubauen.
Auf der einen Seite richten sie sich überwiegend an Schüler:innen, die in der Sek. II sind – also an Schüler:innen, die bereits einen gewissen Bildungserfolg verzeichnen können. Damit diese das Angebot aber überhaupt wahrnehmen können, muss es zunächst sichtbar werden. Das heißt, es braucht nicht nur Talentscouts, die von Zeit zu Zeit die Schulen besuchen, sondern Schulen brauchen grundständig etablierte Förder- und Stipendienkulturen und für diese Thematik sensibilisierte Lehrer:innen (alternativ: Schulpsycholog:innen/Mentor:innen usw.). Wie das Einmaleins sollte mit dem Schuleintritt klar werden, dass der Weg in viele Richtungen verlaufen, auch wenn man es vielleicht nicht sehen kann. Auf der anderen Seite fördern sie primär Schüler:innen, die gute Leistung erbringen, und bauen somit genau die Mauern weiter auf, die sie eigentlich einreißen wollen – gute Schulleistungen reflektieren nicht zwangsläufig auf tatsächliches Potenzial; auch das weiß jeder, der sich mit Schüler:innen mal näher auseinandergesetzt hat (Beispiel hier).
Das Problem, das ich sehe (und es ist natürlich nur eines von vielen), ist eine früh einsetzende ›Sozialisation des Scheiterns‹, die sich unter anderem (!) trägt durch Stigmatisierungen, mangelnde Fehlerkulturen, Notenfixierung, zu wenig individuelle Beratung und Förderung sowie (oftmals habituell bedingtem) Ausschluss von soziokultureller Teilhabe. Das führt in letzter Konsequenz dazu, dass die Hilfs- und Förderangebote, die genau das abfangen möchten, einerseits erst zu einem Zeitpunkt greifen, an dem es für die meisten Nichtakademiker:innenkinder schon ›zu spät‹ ist (denn nur ein Fünftel schafft es überhaupt zum Abitur), und andererseits fehlende Bildungschancen eher reproduziert, indem auch durch das Nichterhalten solcher Förderungen die Selbstwirksamkeitserfahrung ambitionierter Jugendlicher untergraben wird.
Was meine persönliche Lösung anbelangt: Meine Kämpfe trugen und tragen sich mit mir selbst auf dem Impostor-Terrain aus gefühlter Ausgrenzung, Nichtpassung und Unsicherheiten aus. Lehrer:innen, die mich unterstützt hätten, kamen zu spät, Hilfsangebote waren mir nicht bekannt und mein Umfeld konnte nichts davon abfedern.
Dennoch: Ich hatte Bildungserfolg (wie unwahrscheinlich er aus vielerlei Gründen war, weiß ich erst in der Rückschau), wie weit er noch führen kann, ist derzeit ungewiss. Aber trotzdem betrachte ich, bis heute mit dem Impostor-Stimmchen im Innern debattierend, ein akademisches Spielfeld, auf dem ich hervorrangende Leistungen erbracht habe, dessen habituelle Regeln ich aber nicht recht verstehe und daher auch nicht beherrsche(n will).

Autorin: Stefanie Junges
Großartiger Text und spiegelt im Detail und in der Gesamtmessage meine eigene Erfahrung ziemlich genau wider. Letztendlich hat mich in der Promotionsphase dann das Imposter-Syndrom doch niedergerungen.
Dennoch und grade deswegen volle Zustimmung zu deinem Text: Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen und Herkunftsgeschichten muss vermittelt werden, dass alles für sie möglich ist. Und v.a. auch erstrebenswert. Und dass es nicht falsch oder unanständig ist, einen anderen Weg als die Eltern einzuschlagen!